Predigt über die Jahreslosung 2023
Du bist ein Gott der mich sieht (1. Mose 16,13)
Liebe Gemeinde,
wir haben in der vergangenen Woche im Frauenkreis über diese Jahreslosung gesprochen. Da erzählt eine pensionierte Lehrerin: „In einer Klasse gab es ein Mädchen, die kam nach den Ferien wieder und hatte sich ihre Haare ganz abrasiert. Ich erschrak – war das eine schlimme Krankheit oder was sonst? Wollte das Mädchen darauf angesprochen werden oder lieber nicht?“ Auf jeden Fall sprach die Lehrerin das Mädchen darauf an und sie antwortete: „Endlich werde ich gesehen, wahrgenommen. Endlich fragt mich jemand, wie es mir geht.“
Es ist etwas vom Wichtigsten für Menschen aller Generationen, gesehen zu werden, angesehen zu werden, beachtet und geachtet zu sein.
Gerade deshalb ist unsere Jahreslosung so schön. Du bist ein Gott, der mich sieht. Durch die ganze Bibel zieht sich dieses Gott sieht. Er ist nicht ein Gott, unbeteiligt, irgendwo in einem fernen Jenseits. Sondern er sieht, er hört, ihm ist nicht egal, was mit seinen Menschen und seiner Schöpfung geschieht. Schon in den allerersten Versen der Bibel lesen wir: und Gott sah, dass es gut war. Und im zweiten Mosebuch, als die Israeliten in der Sklaverei in Ägypten sind, heißt es: Gott hat euer Elend gesehen. Und von Jesus wird in den Evangelien immer wieder erzählt, wie er den bedürftigen Menschen sieht.
Zu meiner eigenen Konfirmation damals habe ich ein Meditationsbuch bekommen mit dem Titel: Er sieht dich freundlich an. Wie ein Leitthema für Gott und seine Liebe. Und es erinnert, finde ich, an den Schlusssegen bei uns im Gottesdienst mit der vielleicht etwas altertümlichen Formulierung: Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir. Er sehe dich freundlich an.
(In Klammern gesagt: diese Formulierung im Segen erinnert, so habe ich gelesen, an das erste, was ein kleines Baby sieht: die lächelnden Augen der Mutter (oder des Vaters). Er lasse sein Angesicht leuchten über dir. Und keine Eltern vergessen, wie schön es ist, wenn ein Baby das dann beginnt zu spiegeln und zurück lächelt. Er sieht dich freundlich an.)
Ist das eine allzu menschliche Rede von Gott? Dass er sieht – und hört – wie es die ganze Bibel sagt? Hat er denn Augen und Ohren wie wir?
Natürlich ist es eine menschliche Rede, ein Bild, wenn man von Gottes Augen spricht. Was damit aber gesagt wird, ist, dass Gott sich uns zuwendet. Dafür ist es ein Bild.
Man kann, so hat es jemand in unserem Frauenkreis gesagt, die Jahreslosung auch als unheimlich verstehen. Er sieht dich, immer und überall. Big Brother is watching you. Es ist einem ja auch nicht recht, wenn man ständig unter Beobachtung ist.
Ich finde das einen richtigen Einwand – früher oder in religiös sehr strengen Familien hat man Gott und seinen Blick auch als Erziehungsmaßnahme missbraucht. „Auch wenn ich es nicht sehe, Gott der Herr sieht alles – und bestraft es.“
Demgegenüber muss man sagen: in unserer Jahreslosung – wir hören gleich den Zusammenhang – geht es nicht um den allgegenwärtigen Polizisten, sondern darum, dass er uns freundlich ansieht. Das heißt nicht, dass man sich unter seinem Blick auch ändern kann und manchmal auch ändern will. Der große Theologe Augustin hat einmal gesagt: Unter dem Blick deiner Augen bin ich mir zur Frage geworden.
Nun aber zum Zusammenhang unserer Jahreslosung. Sie stammt aus einer besonderen Geschichte, der Geschichte von Hagar und Ismael. Abraham und seine Frau Sara konnten keine Kinder bekommen. Das war schwierig in einer Zeit, in der der Fortbestand der Familie und die wirtschaftliche Versorgung von Nachkommen davon abhing, dass Kinder kamen – vor allem Söhne. Außerdem hatte Gott ihnen ja auch eine große Zahl an Kindeskindern versprochen. Weil aber nichts geschieht, handeln sie so, wie es damals manchmal üblich war, wenn eine Frau kein Kind bekommen konnte. Abraham nimmt die Leibmagd von Sara, nämlich Hagar, zur Frau – sie soll schwanger werden und (wörtlich) auf dem Schoss von Sara den Nachkommen gebären – der ist dann das legitime Kind.
Hagar, die Leibmagd, wird tatsächlich schwanger. Ab diesem Zeitpunkt spielt Sara, die eigentliche Frau, nur eine Nebenrolle – das ärgert sie und sie überredet Abraham, Hagar zu verstoßen.
„Als nun Sara Hagar demütigen wollte, floh sie von ihr. Aber der Engel des HERRN fand Hagar bei einer Wasserquelle in der Wüste. Und er sprach zu ihr: Hagar, Saras Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin vor Sarah, meiner Herrin, geflohen. Und der Engel des Herrn sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und ordne dich ihr unter. Ich aber will deine Nachkommen so mehren, dass man sie nicht zählen kann. Du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen, denn Gott hat dein Elend gehört. …
Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht.“
Gott sieht die verstoßene Hagar in der Wüste, er schickt ihr einen Engel und spricht eine Verheißung über ihrem Sohn aus, Ismael – er soll auch zum Volk werden. Das heißt: Gott hört. Er sieht, er hört, das Elend und das Leid.
Ich denke an all diejenigen, die am Rande sind, am Rande der Gesellschaft, am Rande ihrer Kräfte, am Rand der Verheißungen Gottes – an diejenigen, die sich von anderen nicht verstanden oder weggedrängt oder gemobbt fühlen. Die Wüste ist ja auch ein Symbol.
Und da sagt die Jahreslosung: Gott sieht euch, er sieht euch in dieser Situation. Er schickt seine Engel, in welcher Gestalt auch immer, und er gibt eine neue Verheißung, ein neues Versprechen. Das Versprechen neuen Lebens – für Hagar und Ismael in der Wüste und für all diejenigen, die am Rande sind. Gott sieht euch – er schickt seinen Engel – und: es soll etwas neues entstehen und wachsen, selbst da, wo wir es nicht mehr vermuten.
Unsere Geschichte ist übrigens für Juden wie für Muslime von hoher Bedeutung – von höherer als für uns Christen. Für die Juden ist die Linie Abraham-Isaak-Jakob wichtig – und dass die Verheißung Gottes an Abraham, ich will dich zum großen Volk machen, gehalten und erfüllt wird. Für die Muslime ist Ismael, der Sohn der Hagar, die hier verstoßen wird, der Stammvater der Araber. Und auch diejenigen Muslime, die sonst nicht viel von ihrem Glauben wissen: Ismael kennt jeder, gerade im Zusammenhang des Opferfestes.
Ich meine, es ist gut, mit dieser Geschichte, die Juden und Muslimen besonders heilig ist, respektvoll umzugehen. Und zu wissen: Du bist ein Gott, der mich sieht – das gilt für alle Menschen, gleich welcher Religion. Die Antworten, die wir auf diese Zusage Gottes geben, sind sicherlich verschieden.
Ein Letztes: unsere Jahreslosung ist nicht nur ein Zuspruch, sondern sie trägt auch eine Aufforderung: so wie Gott uns sieht, so sollen wir auch einander sehen, wahrnehmen.
Nicht aneinander vorbei leben, sich interessieren für jemand anderen, ihn oder sie sehen, wie er oder sie ist – und wie er oder sie sein könnte. Jemanden mit einem warmen Blick anschauen und ihn nicht auf seine Begrenztheiten ansehen, sondern auf seine Möglichkeiten und auf das, wie Gott ihn oder sie sieht. Auch diejenigen, die vielleicht ansonsten eher am Rand stehen. Das wäre etwas schönes für das Jahr 2023, sich das vorzunehmen: einander neu wahrzunehmen.
Ich wünsche uns allen, dass uns die Jahreslosung leitet, Mut macht, hell macht. Amen